Leseprobe aus den Vielwelten
Leseprobe Band I
Auszug aus dem ersten Kapitel von 'Tala und die vergessenen Tore':Die Luft im Dachgeschoss war wie immer feucht. Kühl drang die Nacht durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln, und der Mondschein bahnte sich seinen Weg durch das kleine Fenster, sodass der Raum schwach erleuchtet war.
Unter der Dachschräge lag sorgfältig ein Laken über frischem Stroh ausgebreitet, neben dem Lager stand eine große Truhe. Tala lächelte. Sie schlief hier viel besser als auf den harten Matten im Schlafsaal des Waisenhauses. Ruhig ging sie zu der Truhe hinüber und zündete die Kerze an, die darauf stand. Sie wollte noch ein wenig die Zeichnungen anschauen, die sie letztes Wochenende hier gemalt hatte und die seitdem auf einer alten Schulbank unter dem Fenster lagen. Diese Schulbank hatte Martha gehört, die als Kind im Haus ihrer Eltern hier auf dem Dachboden gewohnt und gelernt hatte. Nun diente die Bank Tala als Maltisch und Versteck für ihre vielen Zeichnungen.
Sie war noch mit der Kerze beschäftigt, die nicht gleich angehen mochte, als sie mit einem Mal spürte, dass sie nicht alleine war. Langsam drehte Tala sich zur Schulbank um. Das Dachfenster stand offen und zwei leuchtend rote Augen starrten sie aus der Dunkelheit heraus an.
Dort auf der Schulbank saß der Vogel von der alten Mühle! Es war tatsächlich ein Rabe, nur war er bestimmt dreimal so groß wie die, die sich im Winter auf dem Dach des Waisenhauses tummelten. Seine roten Augen durchdrangen den Raum in einem seltsamen Glühen. Tala wich zurück, stolperte und ließ die Kerze fallen. Das Licht erlosch und sie war unter den finsteren Dachbalken im Halbschatten des Mondes gefangen. Sie spürte, wie ein fremdes Bewusstsein nach ihr griff und sich unsichtbare Klauen um ihren Brustkorb legten wie eiserne Ketten. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus. Wieder begann sich die Welt um sie herum zu drehen und sie fiel auf den rauen Holzboden.
Die Klauen pressten ihren Körper weiter zusammen und etwas bohrte sich in ihren Kopf. Heftig pochte das Blut in ihren Schläfen und der Schwindel wurde so stark, dass sie glaubte, ins Bodenlose zu stürzen. Sie wollte um Hilfe rufen, aber ihre Stimme schien ihr nicht mehr zu gehorchen. So rief sie verzweifelt in Gedanken: ‚Hilfe! Hilfe!‘
Plötzlich hörte sie ein Poltern auf der Leiter, und im nächsten Moment wurde die Dachluke aufgerissen und das Gesicht von Janus erschien. Blankes Entsetzen schlich sich in seine Augen, als er den Raben erblickte. Mit einem kräftigen Ruck schwang er sich in das Zimmer und spuckte dem Vogel ein Wort entgegen, welches Tala nicht verstand. Schlagartig lösten sich die unsichtbaren Klauen und der Rabe wandte sich zum offenen Fenster. Erst jetzt bemerkte sie, dass er eine ihrer Zeichnungen im Schnabel trug. Erstaunt riss sie den Mund auf, aber da war das große Tier schon mit kräftigem Flügelschlag in die Nacht verschwunden. Janus hastete zum Fenster und zog es schnell zu.
„Meine Zeichnung“, hauchte Tala fast lautlos. Ein seltsames Gefühl hatte sie erfasst.
„Was?“ Janus drehte sich zu ihr um.
„Der Rabe hat eine meiner Zeichnungen mitgenommen.“
Tala starrte Janus mit aufgerissenen Augen an und deutete auf die Schulbank. Martha Begetstones verschollener Sohn sah verwirrt auf die bemalten Seiten hinunter. Plötzlich atmete er keuchend aus, beugte sich vor und sah sich hastig ein Blatt nach dem anderen an. Entsetzt blickte er auf, zog eine Zeichnung heraus und hielt sie ihr hin.
„Wie um Himmels willen kommst du dazu, so etwas zu malen?“ Seine Stimme klang gepresst, und Tala trat mit weichen Knien näher. Auf dem Papyrus sah man ein großes, offenes Auge, welches sie wissend anstarrte. Plötzlich wurde ihr eiskalt und sie begann unkontrolliert zu zittern.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie hilflos. Und das war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die sie wie die Albträume, die sie jede Nacht heimsuchten, bereits ihr ganzes Leben begleitete.
Einen Moment sah Janus sie einfach nur an, unbeweglich, gefangen in der Spannung unausgesprochener Fragen. Doch mit dem nächsten Atemzug kehrte alle Lebendigkeit in den jungen Mann zurück. Mit hektischen Bewegungen sammelte er die Papyrus-Blätter ein, warf sie in den Regeneimer, der neben der Truhe stand, und zündete sie an. Beißend kroch der Rauch aus dem Eimer empor und kratzte Tala im Hals, während sie auf die züngelnden blauroten Flammen starrte.
Janus wartete, bis das Papier völlig verbrannt war, dann schaute er auf. „Wir müssen weg von hier. Sofort.“
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ISBN Hardcover: 9783756840175
ISBN Taschenbuch: 9783756840199